Das Gegenteil von Skeuomorphismus

Im User-Interface-Design, also der Gestaltung von Benutzeroberflächen, machte sich in den letzten Monaten ein Trend breit: Verzicht auf visuelle Plastizität und Detailverliebtheit zugunsten von simplen, zweidimensionalen Elementen aus wenig Farben und Formen. Ersteres findet man seitdem unter dem Schlagbegriff „Skeuomorphismus“, letzteres unter „Flat UI“. Aber sind diese beiden Ansätze so grundverschieden?

Das Gegenteil von Skeuomorphismus

Des Kaisers neue Säue

Für Designer ist beides eigentlich ein alter Hut, aber die Namen sind neu - oder zumindest neu ausgegraben. Die Sau wird diesmal also in des Kaisers neuen Kleidern durchs Dorf gejagt.

Skeuomporhismus beschreibt die Analogie, deren sich eine digitale Nachbildung bedient, eine Anleihe aus der realen Welt. Das Leder auf Apples Kalender-Oberfläche. Die Plastizität dreidimensionaler Elemente. Oft im Einsatz dafür sind Texturen, Belichtungseffekte in Form von Farbverläufen, Schlagschatten und natürlich organische Formen. Gerade Apple genießt den Ruf, dieses Konzept bis zur Perfektion zu beherrschen.

In einer autarken digitalen Welt allerdings braucht es im Prinzip keine Analogie mehr zur Welt da draußen. Der Begriff „Flat UI“ meint genau das und beschreibt damit ein verhältnismäßig puristisches Design, ohne oben genannte Effekte. Schön zu sehen an der derzeitigen Ausrichtung von Windows 8 im Metro-Design oder an den UI-Entwicklungen rund um Google.

Mein Problem mit dem „Flat“

Mit dem Begriff „Flat UI“ gibt es meines Erachtens aber das ein oder andere Problem.

Zum einen nutzt der Begriff „flach“ auch nur wieder eine Analogie aus der realen Welt. Natürlich wird darüber versucht, ein Kontrapunkt zu schaffen, aber streng genommen könnte man „Flat UI“ auch als Unterkategorie des Skeuomorphismus betrachten. Es gibt schließlich nichts „flaches“, wenn es nicht auch etwas plastisches gibt. Eine echte „digitale Realität“ dürfte sich aus der Kategorisierung von flach, erhoben, plastisch etc. gar nichts machen.

Zum anderen ist der Begriff unzureichend. Es geht ja schließlich nicht darum, alles, was vorher irgendwie mehrdimensional war, einfach abzuflachen. Wer einmal an einem „flat UI“ gearbeitet hat, weiß, wie viel gestalterische Kompetenz in diesen puristischen Ansatz fließen muss, damit das Design auch wirklich als brauchbar und ästhetisch wahrgenommen wird. Es geht, gerade durch den Verzicht auf Effekte, umsomehr um Formen, Farben, Dimensionen, Positionen und nicht zuletzt gute Typo.

Zu guter Letzt neigen solche Begriffe zu einem Schlachtruf zu werden, welcher die eigene Existenz in irgendeiner Form begründet. So ähnlich wie Web 2.0. Oder Social Media.

Digitale Realität - digitale Authentizität

Ein deutlich besserer Begriff (den ich wohlgemerkt hier gerade nicht neu erfinde) ist „digital authentisch“. Denn darum geht es: um eine Echtheit und Plausibilität innerhalb einer digitalen Umgebung.

Die Realwelt-Analogie, welche den Skeuomorphismus prägt, hat entscheidend zum Verständnis von digitalen Oberflächen beigetragen. Sowohl in Bild als auch in Sprache lernen wir angelehnt an das, was wir schon wissen. Ordner, Schreibtisch, Schalter, Cloud. Viele dieser Analogien sind mittlerweile nicht mehr nötig, teilweise sogar nicht mehr ganz korrekt und werden so auch im Visuellen durch eine abstraktere, aber dadurch treffendere Form abgelöst. Die Stützräder kommen ab.

Skeuomorphismus ist insofern niemals Selbstzweck gewesen und das digital Authentische sollte es auch nicht sein.

Bye bye Realweltanalogie?

Paradox: gerade in der Zeit, als Effekte wie abgerundete Ecken, Farbverläufe und Schlagschatten von fast allen gängigen Browsern eigenständig gerendert werden können, erklingt der Abgesang auf den Skeuomorphismus.

Dabei ist der neue, hippe „flat“ Stil nicht zwangsläufig auch immer eine bessere Wahl. Was A List Apart in ihrem Artikel „In Defense of Eye Candy“ 2009 postulierten, ist heute nicht unbedingt überholt. Wenn interaktive Elemente auch einen deutlichen interaktiven Anstrich haben (zum Beispiel ein Button, der durch abgeflachte Kanten, Beleuchtung und Schlagschatten auch wie einer aussieht), werden sie tatsächlich öfter benutzt.

Untersuchungen für 2013, die zum Beispiel aus A/B-Tests resultieren können, stehen soweit ich weiß noch aus. Aber der Gedanke ist entscheidend: nicht der Stil wird um des Stils willen gut, sondern mit der Lösung einer Aufgabe. Erfüllt der Stil seinen Zweck in Zusammenhang mit dem Benutzerverhalten?

Mal eine Behauptung aus dem Bauch heraus: digital authentische Oberflächen funktionieren auf Touchscreens deutlich besser als auf Geräten, die mit Tastatur und Maus bedient werden. Schon alleine, weil das Gefühl, eine Klick- bzw. Touch-Aktion auszuführen ein ganz anderes haptisches Feedback erzeugt, welches mit dem visuellen Feedback in Einklang zu bringen ist.

Der Unskeuomorphismus, oder: sind wir nicht alle ein bisschen analog?

Selbst das vielleicht unskeuomorphistische Element in Designs, die Typografie, hat ihren Ursprung in der Analogie. Denken wir nur an Höhlenmalereien, Hieroglyphen oder chinesische Schriftzeichen.

Manche behaupten, es würde sogar in unseren heutigen Buchstaben und Buchstabenkombinationen (= Worte) eine Bildlichkeit zum beschriebenen Gegenstand erkennbar sein. Nungut, darüber mag man streiten.

Zumindest aber in Bezug auf die Bedeutung haben wir in der Schriftsprache immer noch feste Regeln: In vielen Sprachen werden Substantive oder bedeutsame Worte mit einem großen Buchstaben begonnen. Aus der Sicht des reinen Verständnisses, also der digitalen Realität, gibt es da nur wenig Grund für. Man könnte auch alles in Kleinbuchstaben ausdrücken, ohne Informationen zu unterschlagen. Aber vielleicht liegt ja hier auch eine Analogie zum „echten“ Leben vor: etwas großes scheint bedeutsamer als der Rest. Zumindest manchmal.

Vor diesem Hintergrund wird uns die Analogie wohl nie ganz entschwinden, so digital real sie auch erscheinen mag. Herrje, selbst Farben und Formen sind im Prinzip kein wirklich digitales Gut, eigentlich funktioniert die digitale Welt komplett ohne Visualisierung. Es sei denn, man heißt Tron und fährt Lasermotorrad.